- Tyros: Vorort der Phöniker
- Tyros: Vorort der PhönikerWährend die archäologischen Zeugnisse des syrisch-palästinensischen Raums über Stadtgestalten und Kulturlandschaften des späten 3. und des 2. Jahrtausends noch verhältnismäßig ausführlich Auskunft geben, ist für die frühe Eisenzeit, die erste Hälfte des 1. Jahrtausends, die Quellenlage vergleichsweise trostlos. In fast allen Städten sind die zuoberst liegenden Siedlungsschichten des frühen 1. Jahrtausends entweder von der Baulust der römischen Kaiserzeit oder aber von der Materialnot der Kreuzfahrer, die die Ruinenstätten der Alten Welt als Steinbrüche für ihre Festungen ausgebeutet haben, schwer in Mitleidenschaft gezogen worden. So ist die Forschung hier auf die unterschiedlichsten Quellen, oft solche von bescheidenem Aussagewert, angewiesen.Als eine wehrhafte Inselstadt mit zinnenbewehrten Türmen und Mauern mit hohen Toren erscheint Tyros auf den Reliefs der Bronzetore von Imgur-Enlil aus der Regierungszeit des Assyrerkönigs Salmanassar III. Deutlich ist zu erkennen, dass der Künstler - wie seine Zeitgenossen - hohen Respekt vor dieser Stadt hatte. Bei den Propheten des Alten Testaments meint man sogar eine gewisse Bewunderung herauslesen zu können: »Wer hat solches verhängt über Tyrus, die Gekrönte, dessen Kaufleute Fürsten waren und dessen Händler die Vornehmsten der Welt« (Jesaja 23,8). Ezechiel (27,3) nennt Tyros »von vollendeter Schönheit«. Den späteren. Chronisten schließlich war die Stadt zur Legende geworden: »Sie war für lange Zeit Herrin des Meeres, nicht nur in ihren Küstengewässern, sondern wohin auch immer ihre Flotten gelangen konnten«, berichtet im 1. Jahrhundert n. Chr. der römische Historiker Quintus Curtius.Von dieser so bildhaft besungenen Stadt ist jedoch nur wenig erhalten geblieben. Die archäologischen Ausgrabungen führten zur Freilegung der Ruinen eines Stadtviertels der römischen Kaiserzeit; von den Hafenanlagen, die einst so bedeutend gewesen sein müssen, hat man in mühsamer Arbeit nur die vermutlichen Bettungsspuren der aus Quadern errichteten Kais finden können. Bei Raubgrabungen kamen in den letzten Jahren Reste eines größeren Gräberfeldes aus der Zeit vor der Eroberung durch Alexander den Großen zutage. Wer sich daher heute von dieser Stadt, von der aus Karthago gegründet wurde und die phönikische Expansion im Mittelmeer ihren Anfang nahm, die über 13 Jahre hin der mächtigen Belagerungsarmee Nebukadnezars II. widerstand und auch von Alexander erst erobert wurde, nachdem er über einen eigens für die Verbindung zum Festland aufgeschütteten Damm seine Infanterie gegen die Inselfeste führen konnte, wer also sich von dieser Stadt ein Bild zur Zeit ihrer größten Blüte machen will, der kann dafür meist nur auf archäologische Zeugnisse aus anderen phönikischen Fundorten rings um das Mittelmeer zurückgreifen.Für die Stadtmauern etwa lassen sich Quaderkonstruktionen des 6. Jahrhunderts v. Chr. aus der phönikischen Niederlassung Mainake an der Südküste der Iberischen Halbinsel (bei Torre del Mar) heranziehen, daneben auch einzelne Abschnitte aus dem imposanten Stützmauerwerk des Tempelbergs von Jerusalem. Dieser zweite Vergleich ist schon deswegen besonders gerechtfertigt, weil in den Geschichtsbüchern des Alten Testaments die Nachricht erhalten blieb, Salomo habe sich wie schon zuvor sein Vater David für seine aufwendigeren Bauvorhaben - den Königspalast und den Jahwe-Tempel - der Hilfe tyrischer Architekten und Bauhütten sowie anderer Spezialisten versichern müssen.Der in der Alten Welt weithin berühmte Tempel des Gottes Melkart, den König Hiram I. im 10. Jahrhundert v. Chr. in Tyros errichten ließ, war keineswegs der erste an diesem Platz. Denn nach einer Notiz Herodots war der Kult dieses dem Herakles ähnlichen Gottes schon im Jahr 2750 v. Chr. in Tyros gegründet worden. Den Vorgängertempel erwähnt Herodot besonders wegen der zwei Säulen - eine aus Gold, eine aus Smaragd -, die vor dem Eingang des Tempels standen und, wie er schreibt, des Nachts weit leuchteten. Zwei solche Säulen vor einem Tempel sind auch auf einem (heute verlorenen, aber im 19. Jahrhundert vom Ausgräber Austen Henry Layard gezeichneten) Relief aus Ninive zu sehen, auf dem der Assyrerkönig Sanherib die Flucht des Stadtkönigs Luli von Tyros im Jahre 701 v. Chr. nach Zypern darstellen ließ: Diese Säulen sind von Lotoskelchen bekrönt, aus denen Rauch aufsteigt. Auch vor dem Eingang des von einem tyrischen Baumeister errichteten Tempels von Jerusalem standen zwei Säulen; nach einer einleuchtenden Deutung symbolisierten sie die Säulen aus Rauch und Feuer, die Jahwe vor dem Volk Israel auf dessen Wanderung durch die Wüste nach Kanaan hatte einherziehen lassen.Es finden sich noch weitere Belegstücke für dieses Architekturschema, das offenbar typisch für die phönikische Sakralbaukunst war: das Terrakottamodell eines Tempels aus Idalion auf Zypern, wo die Phöniker ein Heiligtum für Reschef gegründet hatten, der vermutlich Astarte gewidmete Tempel in Kition auf Zypern, dessen Grundriss - mit den beiden den Eingang flankierenden Säulen - bei der Ausgrabung vollständig zutage kam, und schließlich ein »Kapitell« bzw. eine kapitellartige, als Lotoskelch ausgebildete Säulenbekrönung aus Cádiz, das für seinen Melkart-Tempel berühmt war. Vermutlich handelte es sich beim tyrischen Tempel um einen Langraum, wie er als Typus im syrisch-palästinensischen Raum - etwa beim »Tempel D« in Ebla - seit der Bronzezeit heimisch war. Die Langräume waren in der Regel mehrfach durch Scherwände in quer- oder längenbetonte Räume untergliedert, die bei der Annäherung an das Allerheiligste während einer durch das Baukonzept vorgegebenen Prozession durchschritten werden mussten. Dieses strukturelle Prinzip ist in der Architektur dieses Kulturraums mehrfach zu entdecken.Die spätere phönikische Sakralarchitektur wurde zunehmend von griechischen Vorbildern beeinflusst, wenn nicht schon durchgehend geprägt. Dies gilt für das große Heiligtum des Eschmun von Bostan-ek-Scheich bei Sidon ebenso wie für das zwei Tempel umfassende Heiligtum aus hellenistischer Zeit von Oumm el-Ahmed südlich von Tyros. Auch im Westen der phönikischen Welt zeichnete sich diese Entwicklung ab: Äußerlich war der phönikische Tempel des Sardus Pater von Antas im Süden Sardiniens ein griechisch geprägter Bau mit einer Säulenreihe vor der Eingangsfront; auch der wahrscheinlich als Reschef-Tempel zu identifizierende Kultbau, der bei den jüngsten Grabungen im Stadtzentrum von Karthago teilweise freigelegt wurde, trug außen rein griechische Formen. Dass kleinere Kultbauten häufig in der Art ägyptischer Kultschreine gebaut wurden, bestätigt gleichfalls die Vermutung einer allgemeinen Fremdorientierung in der phönikischen Kunst.Gern wüsste man etwas mehr über die Gräber der tyrischen Aristokratie in der frühen Eisenzeit. Was aus dieser Epoche im phönikischen beziehungsweise phönikisch beeinflussten Zypern (Salamis, Tamassos) oder aus den tyrischen Niederlassungen im mittleren und fernen Westen (Trayamar, Utica) erhalten blieb oder bekannt geworden ist, zeigt bei aller Schlichtheit monumentale Architekturformen. Diese sind sicherlich einerseits durch die herrschenden Jenseitsvorstellungen, andererseits durch traditionelle Bestattungsrituale bestimmt. Der Zugang zu diesen Grabkammern - in vielen Fällen eine schmale, axial zur rechteckigen Kammer hinabgeführte Rampe (meist mit dem griechischen Wort »dromos« bezeichnet) - nimmt jenen Gedanken der rituellen Prozession wieder auf, der auch in der Tempelarchitektur ausgeprägt war.Prof. Dr. Hans Georg Niemeyer
Universal-Lexikon. 2012.